Montag, 10. Januar 2011

FDP Chef Dr. Guido Westerwelle im Interview mit dem Nachrichtenmagazin "Focus"




Berlin, 10.01.2011

Der FDP-Bundesvorsitzende und Bundesaußenminister DR. GUIDO WESTERWELLE gab dem deutschen Nachrichtenmagazin „Focus“ (aktuelle Ausgabe Nr. 2 vom 10. Januar 2011 Seite 22ff) das folgende Interview. Die Fragen stellten OLAF OPITZ und FRANK THEWES:

Frage: Seit Wochen stehen Sie massiv in der Kritik. Selbst Parteifreunde haben Ihnen den Rücktritt nahe gelegt. Dachten Sie im Urlaub auch mal ans Aufhören?

WESTERWELLE: Nein. Ich habe mich im Sommer geprüft auf Grund der enormen Arbeitsbelastungen. Habe ich genügend Kraft? Ja, und ich habe auch die Freude an den Aufgaben und das richtige Team.

Frage: Haben enge Freunde Sie nicht gefragt: Wie lange willst Du Dir das noch antun?

WESTERWELLE: Natürlich gibt es gute Freunde, die einem genau das sagen. Aber ich renne nicht weg, wenn es hagelt und stürmt, nur weil einem selber dann das Leben leichter erscheinen mag. Als Parteivorsitzender kann man nicht in Deckung hinter anderen gehen. Man darf es auch nicht. Man bekommt ja alle möglichen Ratschläge. Man solle leiser oder lauter werden, demütiger oder selbstbewusster, linker oder rechter. Jeder hat unterschiedliche Stärken und Schwächen. Ich freue mich, dass die liberale Anhängerschaft beim Dreikönigstreffen und den anschließenden Kundgebungen immer mehr anerkennt: Trotz mancher Schwierigkeiten geht es jetzt in die richtige Richtung. Der Anfang ist gemacht.

Frage: Worauf führen Sie selbst den Absturz in den Umfragen zurück?

WESTERWELLE: Wir haben beispielsweise zu viel über das diskutiert, was wir noch nicht erreicht haben, und zu wenig über das, was uns schon gelungen ist. Aber wir haben angefangen, diese Sichtweise zu ändern. Denn das Wichtigste ist: Auch wenn wir in vielem noch am Anfang stehen, wir haben den Politikwechsel eingeleitet.

Frage: Bislang hat das Ihrer Partei noch keinen Aufschwung gebracht. Warum soll sich das jetzt ändern?

WESTERWELLE: Ich rate, Umfragen nur als Augenblicksaufnahmen zu sehen. Je näher die nächsten Wahlen kommen, desto mehr bewerten die Bürger auch die Alternativen: Die große Mehrheit in Deutschland, insbesondere Wähler der Liberalen, sieht in einem Bündnis von SPD, Linkspartei und Grünen keine Alternative. In NRW ist dieses Gegenmodell amtlich. Da reden wir dann nicht mehr darüber, ob die FDP Steuervereinfachungen und Steuersenkungen noch nicht ausreichend durchgesetzt hat. Dann reden wir über eine Steuererhöhungs- und Umverteilungsorgie.

Frage: Ist das Argument nicht zu dürftig: Die anderen sind noch schlimmer als wir?

WESTERWELLE: Das wäre natürlich zu wenig, aber trotzdem ist es wichtig. Vor allem jetzt nach den Äußerungen der Linkspartei-Vorsitzenden, dem Kommunismus in Opposition und auch Regierung neue Wege zu eröffnen. Die Alternativen zu einer bürgerlichen Regierung sind jetzt klar.

Frage: Aber Sie müssen doch auch etwas anbieten?

WESTERWELLE: Deswegen haben wir jetzt eine Leistungsbilanz vorgelegt. Wir wollen mit unseren Erfolgen werben. Die deutsche Wirtschaft wächst, die Arbeitslosigkeit sinkt, die Löhne und damit auch die Renten steigen. Noch nie gab es so viele sozialversicherungspflichtige Beschäftigte. Das ist das Verdienst fleißiger Bürger, aber auch einer Regierung, die den richtigen Rahmen für den Mittelstand absteckt. Wir wurden als Klientelpartei für unser Wachstumsbeschleunigungsgesetz kritisiert. Was wir da für den Mittelstand getan haben, haben wir vor den Wahlen angekündigt. Und heute sieht jeder: Das Beste für Wirtschaft und Arbeitsmarkt ist die Ausrichtung auf den Mittelstand.

Frage: Den umstrittenen Mehrwertsteuerrabatt für Hotel- und Pensionsübernachtungen können Sie da aber kaum einreihen.

WESTERWELLE: 95 Prozent der Beherbergungsbetriebe sind kleine und mittelständische Familienunternehmen. Dort sind jetzt Tausende neuer Arbeitsplätze entstanden. Ich bleibe dabei: Eine Regierung unter Beteiligung der FDP hilft lieber dem Mittelstand als Großkonzernen wie General Motors, wie wir das noch in der letzten Legislaturperiode erlebt haben.

Frage: Der Mehrwertsteuerrabatt für die Hotelübernachtungen war schon nach wenigen Wochen Regierungszeit Gesetz. Über kleine Entlastungen wie einen höheren Arbeitnehmerpauschbetrag im nun geplanten Steuervereinfachungsgesetz wird dagegen monatelang gestritten.

WESTERWELLE: Da ist jetzt ein Referentenentwurf an die Öffentlichkeit geraten, über den seit ein paar Tagen diskutiert wird. Die offenen Fragen werden wir jetzt zügig klären. Gesetze werden nicht von Referenten, sondern von Abgeordneten beschlossen. Uns ist es wichtig, dass alles, was an Steuervereinfachungen beschlossen ist, möglichst schnell in Kraft tritt. Was technisch möglich ist, muss jetzt kommen und nicht erst 2012.

Frage: Es geht um eher kleinere Änderungen, die der Finanzminister nun um ein Jahr verschieben will. Warum lässt sich das die FDP bieten?

WESTERWELLE: Die Haltung der FDP ist ganz klar – und ich gehe davon aus, dass dies auch die Haltung der gesamten Koalition ist: Alles, was technisch geht, soll noch für dieses Jahr umgesetzt werden.
Frage: Es gibt ja offenbar politische Einwände: Was wie der erhöhte Arbeitnehmerpauschbetrag oder die erleichtere Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten bereits 2011 zu Steuerausfällen führt, soll auf 2012 oder später verschoben werden.

WESTERWELLE: Wir sollten jetzt vorrangig nach Wegen suchen, wie etwas geht, und nicht nach Gründen, warum etwas nicht geht. Was die Koalition an Steuervereinfachungen beschlossen hat, muss auch so schnell wie möglich für die Bürger spürbar sein.

Frage: Die CSU blickt da offenbar schon weiter. Sie präsentiert jetzt ein Entlastungskonzept für niedrige und mittlere Einkommen in der Höhe von fünf Milliarden Euro. Fühlen Sie sich da nicht überrumpelt?

WESTERWELLE: Im Gegenteil. Ich bin hoch erfreut. Wir haben Anfang letzten Jahres die Bürgerinnen und Bürger mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz entlastet, so dass alle 56 Einkunftsgruppen auch 2011 mehr auf dem Lohnzettel übrig behalten als vor dem Regierungswechsel. Dann haben wir die Priorität, auch wegen der Eurokrise, stärker auf Haushaltskonsolidierung und auf Steuervereinfachung gelegt. Wenn sich durch unsere Konsolidierungspolitik neue Spielräume ergeben, werden sie als erstes für eine Entlastung der Mittelschicht genutzt.

Frage: Ein Großteil davon geht auf die bessere Absetzbarkeit von Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen zurück, die noch vor dem Regierungswechsel beschlossen wurde.

WESTERWELLE: Diese Änderung mussten betroffene Bürger beim Bundesverfassungsgericht einklagen. Im FDP-Steuerkonzept war eine gerechte Absetzbarkeit solcher Vorsorgeaufwendungen schon längst enthalten. Deshalb haben wir das auch in der Opposition unterstützt. Aber unser ganz konkreter Beitrag ist beispielsweise die Kindergelderhöhung und die Erhöhung der Kinderfreibeträge: Eine Familie mit zwei Kindern und einem Monatsbrutto von 3600 Euro verfügt 2011 nach Steuern und Abgaben über 500 Euro mehr netto als 2009. Das wird oft übersehen wie z.B. auch die Korrektur der familienfeindlichen Erbschaftsteuerregeln.

Frage: Welche neuen Themen wollen Sie setzen?

WESTERWELLE: Die FDP muss die Fortschrittspartei auch jenseits der Steuerpolitik sein. Deutschland darf nicht den Mut zur Zukunft verlieren. Viele richten sich in der Gegenwart, im erreichten Wohlstand gemütlich ein und lehnen Fortschritte ab – vom modernen Bahnhof bis zur Gentechnik. Damit unterschätzen wir die Dynamik unserer Wettbewerber in der Welt. Eine Energiepolitik, die bei Kohle und Kernkraft überstürzt aussteigt, und hofft, Wind und Sonne könnten diese sofort ersetzen, trägt irrationale Züge. Sie gefährdet Wohlstand und Existenz. Wir brauchen die mentale Bereitschaft für Fortschritt und neue Technologien. Das ist eines meiner wichtigsten Anliegen.

Frage: Haben Sie für so viel Gestaltungswillen nicht als Außenminister das falsche Amt?

WESTERWELLE: Es ist genau das richtige. Ich vertrete im Ausland deutsche Interessen und weise im Inland darauf hin, welche Entwicklungen in der Welt auf Deutschland zu kommen. Als Außenminister kommt man regelmäßig in Länder, die längst in die Champions League aufsteigen. Brasilien, Indien und China haben eine beeindruckende Dynamik. Dort setzt man auf die Jugend, eine wachsende Mittelschicht und auf Einsteigen statt auf Aussteigen. Wir dürfen uns neuen Technologien und Großinvestitionen nicht verweigern.

Frage: Kann sich Deutschland dann noch Planungs- und Bauzeiten von 20 Jahren leisten?

WESTERWELLE: Die Planungs- und Genehmigungsverfahren müssen verkürzt werden. Die Idee der perfekten Einzelfallregelung durch den Gesetzgeber kann nicht die Zukunft sein. Zur Demokratie gehören auch souveräne Entscheidungen und Führung. Es kann nicht sein, dass beispielsweise einige ideologische Verbände mit juristischen Tricks wichtige Infrastrukturprojekte um Jahre verzögern und somit auch noch verteuern.

Frage: Das dürfte Ihnen aber bei den Umweltverbänden mächtig Ärger bringen.

WESTERWELLE: Trotzdem muss das Notwendige für das Land getan werden, auch wenn es manchmal fordert.

Frage: Im Politiker-Ranking liegen Sie als Außenminister am Schluss noch hinter Gregor Gysi, dessen Linkspartei wieder vom Kommunismus träumt. Das tut doch sicherlich auch sehr weh?

WESTERWELLE: Es ist nur menschlich, dass mich bestimmte Einschätzungen meiner Person wurmen. Aber ich halte mich nicht allzu lange damit auf. Ich kenne das Auf und Ab. Die FDP sollte sich die Kritik ihrer Gegner nicht zu eigen machen, weil unser freiheitlicher Kompass stimmt. Ich bin niemand der sich beim Sturm in die Furche legt. Ich stehe lieber auf und kämpfe, damit die FDP im Frühjahr bessere Wahlergebnisse erzielt, als viele prophezeien.

Frage: Ihr Wort in Gottes Ohr...

WESTERWELLE: Ich bin seit 1994 in der Politik und habe schon einiges gesehen. Bundeskanzler Gerhard Schröder steckte in schlechten Umfragen und führte seine Partei kämpferisch aus dem Tal heraus. Das müssen andere, die seine Agenda 2010 heute in den Abfalleimer werfen, erst einmal nachmachen. Auch Kanzler Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher haben trotz Nato-Doppelbeschluss und Millionen Gegen-Demonstranten auf der Straße das Richtige getan, Wahlen gewonnen und wurden so die Väter der deutschen Einheit.

Frage: Sind die kommenden Wahlen der Gradmesser für Ihre Zukunft als FDP-Chef?

WESTERWELLE: Die FDP kämpft für gute Wahlergebnisse. Die ganze Führung steht bei allen Wahlen in der Verantwortung und an der Spitze wie immer und stets der Parteivorsitzende.

Frage: Sie wollen es noch einmal wissen. Werden Sie im Mai auf dem Parteitag wieder für den Parteivorsitz kandidieren?

WESTERWELLE: Wie bei jedem Bundesparteitag werden wir vorher in den zuständigen Gremien auch unser künftiges Team besprechen, also wie die Mannschaft dann die nächsten zwei Jahre zusammengesetzt sein sollte.




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