Dienstag, 30. Juni 2020
Montag, 29. Juni 2020
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Rede von Bundespräsident Steinmeier beim Forum Bellevue: "Testfall Corona – Wie geht es unserer Demokratie?"
Ein Forum ist ein öffentlicher Raum, ein Ort, an dem viele unterschiedliche Menschen mit zumeist unterschiedlichen Ansichten zusammenkommen, viele sich begegnen und viele sich austauschen. Das war schon in der Antike so und insofern ist das hier heute Vormittag ein eher untypisches Forum. Denn wir haben, wie Sie sehen, kein großes Publikum hier, der Saal ist dünn besetzt. Ich finde es schade, dass nicht mehr Menschen dabei sein und mitdiskutieren können. Aber wir wollen weiterhin Abstand halten, um das Virus zu bändigen.
Dies ist ein besonderes Forum, aber es ist ganz bestimmt kein Geisterspiel. Dafür sind meine Gäste viel zu lebendig und zu klar positioniert. Ich freue mich, dass sie heute zu uns gekommen sind: die Schriftstellerin Herta Müller, der Philosoph Rainer Forst und der Politikwissenschaftler Daniel Ziblatt, mit denen ich gleich auf dem Podium diskutieren will. Und in der ersten und einzigen Reihe die Virologin Marylyn Addo, der Soziologe Heinz Bude, die Rechtswissenschaftlerin Anna-Bettina Kaiser, die Journalistin Elisabeth von Thadden und die Schirmherrin der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung – gleichzeitig meine Frau, Elke Büdenbender, die das Thema Kinder und Bildung im Blick hat.
Ich begrüße auch einige wenige Vertreterinnen und Vertreter der Medien hier im Saal. Und natürlich Sie alle an den Bildschirmen, wo auch immer Sie uns zuschauen. Seien Sie herzlich willkommen beim heutigen
"Forum Bellevue zur Zukunft der Demokratie"!
Die Corona-Pandemie stellt Demokratien ebenso wie autoritäre Regime weltweit auf die Probe. Wir wollen heute darüber sprechen, wie unsere Demokratie sich bislang schlägt im Kampf gegen das Virus, wie sie die Einschränkung von Freiheitsrechten verkraftet hat und vor welchen Herausforderungen sie jetzt steht. Lassen Sie mich, bevor wir ins Gespräch einsteigen, ein paar Aspekte beleuchten, die mir besonders am Herzen liegen.
Belebte Orte, die plötzlich menschenleer sind; Absperrbänder an Spielplatztoren; Parlamente mit viel Platz zwischen den Stühlen – das sind Bilder der Krise, die sich eingeprägt haben. Auch wenn zeitweilige Einschränkungen unserer Bewegungs- und Versammlungsfreiheit gut begründet waren; auch wenn sie von Öffentlichkeit und Gerichten diskutiert und überprüft wurden; auch wenn eine große Mehrheit sie befürwortet hat, um Gesundheit und Leben zu schützen: Die Corona-Krise hat uns vor Augen geführt, dass der öffentliche Raum für unsere Demokratie lebenswichtig ist.
Demokratie braucht Orte, die für alle offen sind, an denen wir uns frei bewegen, begegnen und gleichberechtigt austauschen können. Sie braucht Orte, an denen die Hoffnungen, Ängste und Konflikte unserer vielfältigen Gesellschaft sichtbar werden, an denen auch Unmut und Protest geäußert werden können, jedenfalls solange das friedlich geschieht und das Gewaltmonopol des Staates respektiert wird. Plätze, Parks und Cafés; Schulen, Ausbildungsstätten und Hochschulen; die Läden ums Eck, Theater und Kinos; Vereine, Parteien und Bürgerräte – all das sind Orte, an denen wir uns sehen, an denen wir miteinander sprechen, streiten und so die Demokratie leben.
In diesen Tagen, an denen wir uns den öffentlichen Raum Schritt für Schritt zurückerobern, entdecken wir noch einmal aufs Neue, was wir an ihm haben. Ich wünsche mir, dass wir ihn schützen, pflegen und lebendig halten, in der Stadt und auf dem Land. Und es ist mir wichtig, heute noch einmal und aus gegebenem Anlass zu sagen: Es sind auch und gerade die Polizistinnen und Polizisten, die das friedliche Neben- und Miteinander im öffentlichen Raum, auf unseren Straßen und Plätzen schützen. Sie alle, die dafür im Ernstfall ihre Gesundheit und ihr Leben einsetzen, verdienen unseren Respekt und nicht Hass und übelste Herabsetzung des ganzen Berufsstandes.
Während des Lockdowns haben wir auch die Erfahrung gemacht, dass wir – im Privaten wie im Öffentlichen – auf den digitalen Raum angewiesen sind. Deshalb sollten wir jetzt umso entschiedener dafür kämpfen, dass er nicht von Hass und Herabsetzung vergiftet wird. Unsere Demokratie braucht auch eine digitale Öffentlichkeit, in der Respekt, Toleranz und Vernunft den Ton angeben.
Wir wissen, die Pandemie ist nicht vorbei, sie wird uns noch lange beschäftigen. In diesen Tagen sehen wir, wie fragil die Erfolge im Kampf gegen das Virus sind, wie schnell die Infektionszahlen wieder in die Höhe schießen können. Auch die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie sind weder bewältigt noch überhaupt schon in vollem Umfang absehbar. Aber als Zwischenfazit lässt sich nach den ersten Wochen doch sagen: Es ist uns in einem gesellschaftlichen Kraftakt gelungen, die Infektionskurve abzuflachen und diejenigen zu unterstützen, die die Krise am härtesten getroffen hat. Und diesen Kraftakt haben wir nicht geleistet, weil eine starke Hand uns dazu gezwungen hat, sondern weil wir ihn leisten wollten, aus Solidarität und Verantwortungsbewusstsein.
In einer Zeit beunruhigender Unsicherheit haben wir gesehen, dass viele Menschen in unserem Land Vertrauen in die demokratischen Institutionen haben. Und wir haben gesehen, dass das Vertrauen in die handelnden Politikerinnen und Politiker in den Wochen des Krisenmanagements sogar noch gewachsen ist.
Vertrauen, das wissen wir, lässt sich nicht verordnen. Zum Vertrauen in der Demokratie gehört das Selbstvertrauen der Bürgerinnen und Bürger. Es ist kein blindes Vertrauen, sondern eines, das auch auf Skepsis und eigener Urteilskraft beruht. Es kann nur wachsen, wenn Politik erfahrbar ist. Und genau das haben wir in der Krise erlebt: Nur selten stand uns Politik so unmittelbar, so plastisch, so wirksam vor Augen wie in den letzten Wochen.
Wir alle waren gewissermaßen live mit dabei in der Werkstatt der Politik. Wir haben verfolgt, wie Parlamentarier und Regierende in Bund und Ländern Verantwortung übernehmen und Entscheidungen treffen müssen, trotz aller Ungewissheiten. Wie haben gesehen, wie wichtig es ist, dass sie die Gründe ihres Handelns erklären; dass sie Interessenkonflikte und Ungerechtigkeiten nicht verschweigen; dass sie offenlegen, von wem sie sich beraten lassen; dass sie auch über ihre Unsicherheit und Fehlbarkeit sprechen.
Ich glaube, in der Corona-Krise sind sich Bürgerschaft und Politik ein Stück näher gekommen, allen Abstandsregeln zum Trotz. Ob das Vertrauen nach der Krise anhält, das wird auch davon abhängen, wie offen und einsehbar der politische Raum bleibt. Ich wünsche mir, dass die Erfahrbarkeit von Politik noch mehr Menschen motiviert, sich innerhalb und außerhalb der demokratischen Institutionen für das gemeinsame Ganze zu engagieren. Denn dass Politik einen Unterschied macht und dass es letztlich auf jede und jeden von uns ankommt, auch das erleben wir in dieser Krise.
Die vergangenen Wochen haben gezeigt, dass der Glaube an die Vernunft und das Vertrauen in die Wissenschaft besondere Kraftquellen unserer Demokratie sind.
Hunderttausende haben miterlebt, wie Forscherinnen und Forscher sich vortasten auf dem Weg zu gesichertem Wissen, wie sie ihre Aussagen und Methoden immer wieder überprüfen und korrigieren, wie sie sich auch die Grenzen ihrer Erkenntnis klarmachen. Das zu verfolgen, ist eine Geduldsprobe, weil wir uns doch alle einen schnellen Sieg über das Virus wünschen. Aber es fasziniert uns auch und es zeigt: Wissenschaft ist ein dauerhafter Lernprozess, sie lebt vom rationalen Streit und genau das verbindet sie mit der Demokratie.
Ich bin froh, dass sich in unserem Land große Teile von Politik und Öffentlichkeit an wissenschaftlichen Befunden orientieren, und dass dabei auch klar ist: Wissenschaft kann und soll demokratische Debatten und Entscheidungen nicht ersetzen. Genauso froh bin ich, dass Politik in der Krise danach bewertet wird, was sie zur Lösung beiträgt, dass im politischen Diskurs Ernsthaftigkeit und Sachlichkeit zählen, wenn es darauf ankommt.
Wir erleben in dieser Krise aber auch, wie brüchig der Glaube an Vernunft und Diskurs in manchen Teilen unserer Gesellschaft geworden ist. Wo Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler angefeindet und bedroht werden, wo Erkenntnisse geleugnet, Verschwörungstheorien verbreitet, Aluhüte für Heilmittel gehalten werden, überall da ist unser Widerspruch gefragt. Und gerade die Corona-Krise gibt uns doch die besten Argumente an die Hand, um für Wissenschaft und Demokratie zu werben!
In der Krise sehen wir, wie stark unsere Demokratie von Meinungsvielfalt lebt. Selten waren der Hunger nach glaubwürdigen Informationen und das Bedürfnis nach fairem Meinungsstreit so groß wie in den letzten Wochen. Und selten waren so viele Stimmen aus ganz unterschiedlichen Teilen der Gesellschaft zu hören.
Wir sollten nach der Krise nicht vergessen, wie wichtig kritische, verlässliche und vielfältige Medien für eine lebendige Öffentlichkeit und das Vertrauen in Politik sind. Und wir sollten auch nicht vergessen, wie wichtig es ist, öffentlich zu streiten.
Sogar Irritierendes und Irres darf in unserer Demokratie geäußert werden. Demokratinnen und Demokraten sollten die Maßstäbe rationaler Kritik auch dann beherzigen, wenn sie sich mit denen auseinandersetzen, die die Irrationalität feiern. Wo aber Hass und Gewalt ins Spiel kommen; wo Menschenrechte verletzt werden; wo die Offenheit der Demokratie selbst angegriffen wird, da endet die demokratische Toleranz.
Und: Wir müssen uns denen entgegenstellen, die aus politischen Gründen gegen alle Vernunft handeln und dabei die Verunsicherung von Menschen missbrauchen, um Zweifel an demokratischen Verfahren, sogar gegen die Demokratie als Ganze, zu säen; die Sorgen und Ängste instrumentalisieren, um Stimmung gegen das
"System", das angebliche Machtkartell aus Politik, Medien und Wissenschaft, gegen das
"eigentliche", das wahre Volk zu machen. Auch in der Corona-Krise und in der Zeit danach müssen wir wachsam bleiben. Lassen Sie uns gemeinsam verhindern, dass sich Viren des Demokratiefeindlichen ausbreiten! Demokratische Antikörper bilden, würde Rainer Forst sagen, ist die Aufgabe der Zeit!
Das Corona-Virus hat uns bewusst gemacht, wie zerbrechlich das ist, was wir unser
"normales Leben"nennen. Das Virus kann jeden treffen, aber deshalb sind noch lange nicht alle in gleicher Weise betroffen! Nicht zum ersten Mal machen wir die Erfahrung: Die Krise ist nicht der große Gleichmacher. Auch diese Krise hat Ungleichheiten noch schärfer hervortreten lassen, gerade auch viele junge Menschen sorgen sich um ihre Zukunft.
Zugleich zeigen unzählige Bürgerinnen und Bürger in unserem Land auf ganz neue Weise Solidarität, schützen die besonders Gefährdeten und helfen denen, die in Not geraten sind. Und viele wünschen sich einen Staat, der diesen Geist der Solidarität bekräftigt, nicht repressiv oder bevormundend, sondern unterstützend und ermutigend. Mein Dank gilt allen, die für andere da sind und auf andere achtgeben. Sie alle stärken den Zusammenhalt, den wir nicht nur in der Krise brauchen, sondern auch in der Zeit danach, wenn wir den Neustart gestalten müssen.
Dass Solidarität alles andere als selbstverständlich ist, auch das erleben wir in diesen Wochen. Wer unverantwortlich handelt und andere gefährdet, ob aus Ungeduld, Egoismus oder Ignoranz, der setzt aufs Spiel, was wir in den vergangenen Wochen gemeinsam erreicht haben. Die Corona-Krise führt uns noch einmal besonders eindrücklich vor Augen, wie sehr wir in Politik und Gesellschaft aufeinander angewiesen sind. Ein gutes Miteinander ist nur möglich, wenn wir uns um mehr kümmern als nur um uns selbst.
Vertrauen, Vernunft, Meinungsvielfalt und Solidarität – das sind die Stärken unserer Demokratie, die sich in unserer gemeinsamen Reaktion auf das Virus gezeigt haben. Ich finde, das sollten wir selbstbewusst aussprechen, gerade auch denen gegenüber, die an der Demokratie zweifeln oder sie verächtlich machen. An dieser Stelle habe ich oft über die Faszination des Autoritären geredet, die wir in vielen Teilen der Welt beobachten, auch bei uns in Europa. Diese Gefahr ist nicht gebannt. Aber so viel Zwischenbilanz will ich wagen: In der Corona-Krise hat das Autoritäre an Faszination verloren!
Es ist doch unübersehbar: Im Kampf gegen die Pandemie helfen weder markige Sprüche noch Kraftmeierei, weder Demagogie noch Selbstüberschätzung. Im Kampf gegen das Virus hilft es nicht, wenn Zahlen gefälscht oder gar nicht erst erhoben werden, um das eigene Regime in einem Konkurrenzkampf der Systeme besser aussehen zu lassen. Und es ist skrupellos, wenn gewählte Regierungen den Kampf gegen das Virus missbrauchen, um Freiheitsrechte weiter abzubauen und die eigene Macht zu zementieren.
Die vergangenen Wochen haben gezeigt: Unsere Demokratie kann auf existenzielle Bedrohungen reagieren, und zwar schnell, entschieden und kraftvoll. Wir sind gemeinsam in der Lage, in kürzester Zeit umzusteuern, gewohnte Pfade zu verlassen und auch unter Ungewissheitsbedingungen zu entscheiden, notfalls Irrtümer einzuräumen und zu korrigieren. Und große Teile der Gesellschaft haben die Fähigkeit zur Solidarität gezeigt, als sie gefragt war! Ich glaube, diese Erfahrung kann uns Mut machen und Zuversicht geben, wenn es darum geht, andere Herausforderungen zu bewältigen, die ein grundsätzliches Umdenken und eine Politik des Wandels erfordern.
In den vergangenen Wochen haben uns die Entwicklung der Infektionszahlen und die Befürchtung einer harten Rezession täglich in Atem gehalten. Deshalb ist fast unbemerkt geblieben, dass auch eine grundlegende Auseinandersetzung um die Zukunft unserer Gesellschaft begonnen hat. Wie soll es jetzt weitergehen? Diese Frage stellen sich gerade viele Menschen in unserem Land. Ich glaube, um gute Antworten zu finden, brauchen wir vor allem eines: den Willen zum Umsteuern.
Ob dieser Wille nach der Krise Bestand haben wird oder ob sich eher eine allgemeine Krisenmüdigkeit einstellt, das ist eine offene Frage. Anders als die Pandemie verlaufen Katastrophen wie der Klimawandel schleichend und für manche fast unmerklich, und viele von uns kennen die Sehnsucht nach einer Rückkehr in die
"alte Normalität"nur allzu gut. Ja, es ist unklar, ob Demokratien auch nach der Corona-Krise zum Umsteuern bereit sein werden.
Aber ich bin überzeugt: Wir brauchen diesen Willen zum Umsteuern. Wir brauchen ihn, wenn wir eine Klimapolitik betreiben wollen, die die selbst gesetzten Ziele auch umsetzt, die Arbeitsplätze mit Zukunft sichert und unseren Kindern und Enkeln einen lebenswerten Planeten hinterlässt. Wir brauchen ihn, wenn wir die Europäische Union zukunftsfest machen wollen, und ich finde, er zeigt sich schon in den mutigen europäischen Plänen zum Wiederaufbau. Und wir brauchen diesen Willen zum Umsteuern nicht zuletzt, wenn wir Gesundheit und Frieden schützen und mehr globale Gerechtigkeit schaffen wollen, gemeinsam mit unseren Nachbarn in Europa und der Welt.
Im Kampf gegen die Pandemie, in dem sich Staaten nach innen gewendet und ihre Grenzen geschlossen haben, ist uns noch einmal bewusst geworden, wie sehr wir den Austausch von Wissen und die Zusammenarbeit über Grenzen hinweg brauchen, um globale Krisen zu bewältigen. Wir alle können sehen: Abschottung, Ausgrenzung und Alleingänge führen nicht in eine bessere Zukunft.
Wie die Welt nach der Krise sein wird, das ist offen. Wie sie werden soll, darüber müssen wir in der Demokratie streiten und entscheiden, unter der Bedingung von Gleichheit und Freiheit. Damit will ich den Raum öffnen für unsere Diskussion. Ihnen allen noch mal ein herzliches Willkommen beim Forum Bellevue!
Sonntag, 28. Juni 2020
Samstag, 27. Juni 2020
Freitag, 26. Juni 2020
Mittwoch, 17. Juni 2020
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